Warum emotionale Abgrenzung wichtig ist

Empathie, Hilfsbereitschaft, Feinfühligkeit – die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen und Verständnis für deren Situationen und Gefühle entgegenzubringen ist zweifellos eine als positiv zu bewertende Eigenschaft und kann durchaus als Stärke eines Menschen gesehen werden. Menschen, die über diese Eigenschaften verfügen, fällt der Bindungs- und Beziehungsaufbau häufig leichter. Aber auch die schönsten Eigenschaften haben ihre Schattenseiten. Eine Herausforderung, der diese Menschen nicht selten gegenüber stehen ist die emotionale Abgrenzungsfähigkeit. Denn manche Menschen fühlen nicht nur für ihre Mitmenschen, sondern geradezu mit ihnen. Sie tauchen so tief in die Emotionen ihrer Nächsten ein, dass sie nahezu selbst von deren Leid betroffen sind. Diese Empathie ist lobenswert, aber sie birgt auch die Gefahr, dass man selbst in einen Strudel gerät. 

In der Beratungspraxis erleben wir häufig, dass Klient*innen sich in diesen Situationen für ihre Mitmenschen nahezu aufopfern. Sie möchten neben der emotionalen Stütze auch Lösungsmöglichkeiten bieten. Und so kommt es nicht selten vor, dass aus den Problemen der anderen die eigenen Probleme gemacht werden. Im heutigen Blogbeitrag soll es deshalb um das Thema „ Emotionale Abgrenzung“ gehen. Wir möchten dafür zunächst beschreiben, was wir unter dieser Abgrenzung verstehen und wann sie sinnvoll sein kann. Außerdem haben wir eine praktische Übung für dich zusammengestellt. 

psychologische online beratung buchen
Warum emotionale Abgrenzung wichtig ist 1 - Psychologische Onlineberatung - Mindvise

Was bedeutet Abgrenzung?

Abgrenzung kann je nach Kontext ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Es enthält den Begriff „Grenze(n)“. In einem physischen Sinne kann das also bedeuten, den eigenen Raum oder Besitz zu schützen, sei es durch Zäune, Mauern oder andere Barrieren. Es kann auch die Definition von Territorien oder Grenzen zwischen Ländern und Nationen umfassen.

Wir fokussieren uns in diesem Beitrag jedoch auf die emotionale Abgrenzung – also die Fähigkeit, klare Differenzierungen zwischen den eigenen Emotionen und denen unserer Mitmenschen zu setzen. Das bedeutet, sich nicht von den Emotionen anderer überwältigen zu lassen und eine eigene gesunde Distanz zu wahren. 

Emotionale Übernahme und warum es wichtig ist, sich emotional abzugrenzen

Eine „emotionale Übernahme“ kann nicht nur zu persönlichem Leid führen, sondern auch zu einer Erschöpfung der eigenen Ressourcen. Menschen, die stark mitfühlen, investieren oft einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit und Energie, um ihren Mitmenschen zu helfen. Sie übernehmen Verantwortung, die nicht zwangsläufig ihre ist, übernehmen Aufgaben, die sie selbst belasten und setzen sich oft über ihre eigenen Grenzen hinweg, um anderen beizustehen.

Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, dass wir uns schuldig fühlen, wenn wir keine sofortige Lösung für die Probleme unserer Mitmenschen parat haben. Doch nur selten gibt es „die“ Patentlösung. Jede Situation ist einzigartig und erfordert differenzierte Herangehensweisen. Das Fehlen einer sofortigen Lösung bedeutet nicht, dass wir versagt haben oder dass wir nicht genug tun. Es bedeutet einfach, dass wir die Komplexität der Situation anerkennen. Zudem kann es bei dem Betroffenen den Eindruck erwecken, er könne die Situation nicht aus eigener Kraft meistern und wäre auf Hilfe von anderen angewiesen, was langfristig gesehen den Selbstwert und die Selbstbewältigungsfähigkeit einschränken kann. 

In der Regel wenden sich Menschen mit ihren Ängsten, Sorgen und Problemen nicht an uns, weil sie eine sofortige Lösung erwarten. In erster Linie geht es darum, den emotionalen Ballast loszuwerden, indem sie ihn aussprechen und Trost zu suchen. Das Zuhören und das Angebot einer empathischen Schulter zum Anlehnen sind oft viel wichtiger als das Anbieten von Lösungen. Indem wir einfach da sind, um zuzuhören und Mitgefühl zu zeigen, geben wir unseren Mitmenschen die Möglichkeit, sich verstanden und unterstützt zu fühlen. Dies kann bereits eine immense Erleichterung für sie bedeuten und ihnen helfen, mit ihren eigenen Emotionen besser umzugehen.

Es ist dementsprechend wichtig, dass obwohl Mitgefühl eine lobenswerte Eigenschaft ist, es notwendig ist, Grenzen zu setzen, um die eigene geistige Gesundheit zu schützen. Selbst wenn es schwerfällt, müssen diese Personen lernen, sich selbst zu schützen und ihre eigenen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Es ist nicht egoistisch, sich um sich selbst zu kümmern, sondern eine Voraussetzung, um anderen langfristig helfen zu können.

psychologische online beratung buchen
Warum emotionale Abgrenzung wichtig ist 2 - Psychologische Onlineberatung - Mindvise

Nimm dir den Druck!

In diesem Zusammenhang ist der Appell, den Druck herauszunehmen, von ganz besonderer Bedeutung. In unserer heutigen Welt, die von Schnelligkeit geprägt ist, haben wir oft den Anspruch an uns selbst, schnell Entscheidungen zu treffen, schnell zu agieren, schnell zu reagieren. Wir fühlen Zeitdruck. Es gibt Momente im Leben, da muss man ganz klar schnell reagieren – wenn ein Mensch beispielsweise in akuter Lebensgefahr ist. Aber in vielen anderen Situationen braucht es eine schnelle und sofortige Handlungsentscheidung gar nicht. Der Satz „Eine Nacht darüber schlafen“ kommt nicht von irgendwo – insbesondere in hochemotionalen Situationen fehlt es uns an einem klaren Verstand. Wenn ein uns nahestehender Mensch und panisch kontaktiert und um Hilfe bittet, geschieht es leicht, dass wir ebenfalls in eine Art Panikmodus verfallen.

Übung: Die Acht der emotionalen Abgrenzung

Zum Abschluss dieses Beitrags möchten wir dir eine kleine Abgrenzungsübung vorstellen. Du praktizierst sie zwar überwiegend auf gedanklicher Ebene, jedoch enthält sie auch eine körperliche Komponente. Du kannst sie immer dann anwenden, wenn du das Gefühl hast, die Emotionen einer anderen Person zu übernehmen und in dir zu tragen. Wir empfehlen dir, sie im Stehen durchzuführen – es ist aber auch im Sitzen absolut möglich.

  • Richte dich auf und spüre den Boden unter deinen Füßen.

  • Stelle dir vor, die Person steht dir gegenüber – mit einem gewissen Abstand zwischen euch.

  • Ziehe gedanklich einen Kreis um dich herum, der dich umschließt. Fahre mit dem Finger einmal rund um dich herum, um diesen Kreis für dich zu visualisieren.

  • Ziehe dann einen weiteren Kreis um die Person, die dir (gedanklich) gegenübersteht und verbinde die beiden Kreise miteinander, sodass eine Acht entsteht. Jeder von euch hat jetzt seinen eigenen „Safe-Space“.

  • Atme tief durch und spüre, wie du dich in diesem Kreis sicher und geschützt fühlst.

  • Stelle dir vor, wie die Linien der Acht immer stärker werden, vielleicht in einer bestimmten Farbe leuchten oder pulsieren. Gestalte sie so, dass sie für dich Schutz ausstrahlen, denn die Linien sollen eine transparente Schutzbarriere und ich herum bilden.

  • Du kannst die Person gegenüber von dir sehen, sie hören. Du kannst weiterhin emphatisch auf sie reagieren. Aber die Grenzen der Acht schützen dich vor einer Übernahme ihrer Emotionen. Die Person gegenüber von dir hat ebenfalls diesen geschützten Raum, diesen geschützten Rahmen.

Die Übung muss nicht zwangsläufig auf diese Thematik angewandt werden – du kannst sie in verschiedensten Situationen nutzen, in denen sie passend erscheint.

Pascal Seitz
Author: Pascal Seitz

Psychologe (M.Sc.)

Diesen Beitrag teilen

Weitere Beiträge

Achtsamkeit

Grenzen setzen durch bewusste Pausen

Hast du auch manchmal das Gefühl, dass die Arbeit nie endet? In einer Welt, die niemals stillzustehen scheint, fällt es

Allgemein

Zeit für mich

Kennst du dieses Gefühl, dass die Stunden, Tage und Wochen förmlich an dir vorbeiziehen? Der Kalender ist vollgepackt mit Terminen

Allgemein

Eltern sein und Paar bleiben

Das Abenteuer der Elternschaft ist zweifellos eine der größten Freuden im Leben. Während man sich in die Rolle der Mutter

Achtsamkeit

Grenzen setzen durch bewusste Pausen

Hast du auch manchmal das Gefühl, dass die Arbeit nie endet? In einer Welt, die niemals stillzustehen scheint, fällt es vielen von uns schwer, zwischen

Zum Newsletter anmelden

Lass dich über neue Blogbeiträge informieren